„Ein neues Gebot gebe ich euch:
Liebt einander!
Wie ich euch geliebt habe,
so sollt auch ihr einander lieben.

Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid:

wenn ihr einander liebt.“ (Joh 13,35f)

Liebe Brüder und Schwestern!

An zwei Worten aus dem Evangelium bin ich hängen geblieben.

Worte, die – wie mir scheint –
einen Schlüssel zum Verständnis des Neuen Gebotes darstellen,
das Jesus seinen Jüngern gibt.

Er war ja nicht gekommen,
um die alten Gebote, das Gesetz und die Propheten aufzuheben,
sondern um sie zu erfüllen. (vgl. Mt 5,17)
– Also zur Fülle zu bringen,
  was in den Geboten des Alten Testaments, bereits da war.

Dazu gibt er uns das Neue Gebot,
das christliche Gebot.

Liebt einander!

Wie ich euch geliebt habe,
so sollt auch ihr einander lieben.“
(Joh 13,35)

Die beiden Schlüsselworte zum Neuen Gebot sind:
ἀγαπᾶτε ἀλλήλους und καθὼς.

Die Einheitsübersetzung
gibt ἀγαπᾶτε ἀλλήλους mit „liebt einander“ wieder
und καθὼς mit „wie“.

Die ἀγάπη ist die Form der Liebe,
die Gott den Menschen entgegenbringt.

Die beiden anderen Begriffe für Liebe
Philia (Freundesliebe)
oder gar Eros (erotisches Begehren)
finden sich in einem solchen Zusammenhang in der Bibel nicht.

ἀγαπᾶτε ἀλλήλους „liebt einander“

Das ist das Neue Gebot,
das Gebot Jesu,
das typisch christliche Liebesgebot.

Um besser zu verstehen,
was Jesus genau damit meint,
müssen wir uns das Wort ἀγάπη genauer ansehen.

Gott ist ἀγάπη sagt der erste Johannesbrief (1 Joh 4,8.16).

Was ἀγάπη heißt,
hat Gott durch die Sendung seines Sohnes in die Welt geoffenbart. (1 Joh 4,9)

ἀγάπη ist das Wort,
das das Sohnesverhältnis
zwischen Jesus und dem Vater kennzeichnet. (Joh 15,10b; 17,26)

In der Personen und Geschichte Jesu,
insbesondere in seinem Tod für uns,
zeigt sich die Liebe Gottes
als wohlwollende Liebe.

Sie zeigt ihr Wohlwollen nicht darin,
dass sie tut, was die geliebte Person verlangt,
sondern was sie braucht (vgl. Joh 3,16).

Gott zeigt seine ἀγάπη indem er Jesus für uns hin schenkt.

Damit der Mensch Gott und seinen Nächsten lieben kann,
musste er sich zuerst Gottes Liebe schenken lassen (1 Joh 4,19).

Auf diesem Hintergrund spricht das Neue Testament
auch von der menschlichen Liebe als ἀγάπη. [1]

ἀγαπᾶτε ἀλλήλους „liebt einander“

So das Neue Gebot Jesu.

„Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben.“ (Joh 13,35b)

Vorbehaltlos,

bedingungslos,

bereit bis zum Äußersten zu gehen,

ohne vorherige Diskussion,

ohne dass wir sie uns verdient hätten.

„Liebt einander!

Wie ich euch geliebt habe,
so sollt auch ihr einander lieben.“ (Joh 13,35)

Neben ἀγαπᾶτε ἀλλήλους
ist das zweite Schlüsselwort
zum besseren Verständnis des Neuen Gebotes
καθὼς.

Von der Einheitsübersetzung mit „wie (ich euch geliebt habe)“ übersetzt.

Freilich ist dieses Wort nicht quantitativ zu verstehen,
aber die Stelle, an der wir uns befinden,
– direkt nach der Fußwaschung –
macht deutlich,
dass das Handeln Jesu selbst
den Befolgern seines Neuen Gebotes den Maßstab vorgibt:

„ebenso wie“ ich sollt auch ihr einander lieben.

Nach der Fußwaschung hatte Jesus gesagt:

„Ich habe euch ein Beispiel gegeben,
damit auch ihr so handelt,
wie ich an euch gehandelt habe.“ (Joh 13,15)

καθὼς kann aber auch im begründenden Sinn verstanden werden:

Also im Sinn von „Weil ich euch geliebt habe,
so sollt auch ihr einander lieben.“ (Joh 13,35)

Der Grund,
die Kraftquelle für die gegenseitige Liebe
ist nicht die Einsicht in ihre Nützlichkeit,
nicht die eigene Anstrengung
oder die besondere moralische Qualität des Liebenden.

Sondern der Grund für die gegenseitige Liebe,
die Quelle, die die Christen zur gegenseitigen Liebe bringt
und dazu anspornt,
ist Jesus Christus selber.

Wer sagt, er liebe ihn,
muss auch so handeln (so lieben)
wie Jesus selbst es getan hat.

Es ist ein „Grundprinzip“ der johanneischen Ethik:

Weil Jesus in besonderer Weise den Jüngern Liebe erweist,
können und sollen auch sie in neuer Weise handeln.[2]

Der Erste Johannesbrief wird es treffend zusammenfassen:

„Liebe Schwestern und Brüder,
wenn Gott uns so geliebt hat,
müssen auch wir einander lieben.“ (1 Joh 4,11)

Und „wenn wir einander lieben,
bleibt Gott in uns
und seine Liebe ist in uns vollendet“. (1 Joh 4,12)

Spätestens dann wird klar,
dass das Neue Gebot Jesu,
das Gebot der gegenseitigen Liebe,
nicht nur eine Aufforderung zu moralisch gutem Handeln ist.

Es ist eine Weise Gott zu begegnen.

Wer die gegenseitige Liebe lebt,
wer nach dem Neuen Gebot handelt,
begegnet Gott.

Und nicht nur,
dass die, die das Neue Gebot befolgen,
Gottes Gegenwart erfahren und erleben,
auch alle Anderen werden erkennen,
dass es wirklich Jünger Jesu sind. (vgl. Joh 13,36)

„Ein neues Gebot gebe ich euch:

Liebt einander!

Wie ich euch geliebt habe,
so sollt auch ihr einander lieben.

Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid:
wenn ihr einander liebt.“ (Joh 13,35f)

Nun, liebe Schwestern und Brüder,
könnte einer Fragen:

Wie kann ich denn dieses Neue Gebot,
die Gegenseitige Liebe,
konkret leben?

Wenn es sich bei der Gegenseitigen Liebe um die ἀγάπη handeln soll,
dann wird als Erstes klar,
dass es dabei nicht darum gehen kann,
den Anderen zu mögen.

Das wäre Philia oder Eros.

Und wenn die ἀγάπη
die Liebe nach den Maßstäben Gottes,
die Liebe zwischen Vater und Sohn umschreibt,
dann ist gleich klar,
dass es um einen hohen, ja höchsten , ja göttlichen Anspruch geht.

Wenn die Gegenseitige Liebe konkret werden soll,
dann müssen wir zuerst lernen,
den Andern mit den Augen Gottes anzuschauen
und dann so zu handeln, wie ER.

Und wie macht es Gott?

Gott liebt ALLE.

ER macht keinen Unterschied
und lässt seine Sonne aufgehen über Gerechten und Ungerechten

Also ALLE LIEBEN.

Gott liebt ALS ERSTER.

ER hat uns zuerst geliebt (vgl. 1 Joh 4,19),
noch bevor wir etwas getan haben.

Also ALS ERSTER LIEBEN.

Gott hat nicht mit Worten sondern MIT TATEN geliebt.

ER gibt uns alles was wir zum Leben brauchen,
vor allem auch die materiellen Dinge.

ER tut etwas Konkretes an jedem Tag, in jeder Sekunde.

Also MIT TATEN LIEBEN.

Gott liebt sogar seine FEINDE.

Er macht keinen Unterschied
und Sympathie und Antipathie sind für IHN keine Maßstäbe.

Also auch DIE FEINDE LIEBEN.

Gott, wird Mensch und MACHT SICH EINS mit uns.

ER wird einer von uns
und geht hinein in das Leben der Menschen,
in die Freuden,
aber vor Allem auch in die Abgründe und das Leiden und das Kreuz.

Also sollen auch wir UNS EINSMACHEN MIT DEN ANDEREN.

Compassion (engl.) nennt man das neudeutsch.

Und wenn wir so,
mit den Maßstäben Gottes lieben,
dann werden wir IHM begegnen.

Wir werden Christus begegnen:
ER sagt „ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben;
ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben… das habt ihr MIR getan“ (Mt 25,35ff).

Und wir werden dem Vater begegnen:

Jesus sagt:
„wer mich sieht, sieht den, der mich gesandt hat“. (Joh 12,45)

Und „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen.“ (Joh 14,9)

„Ein neues Gebot gebe ich euch:

Liebt einander!

Wie ich euch geliebt habe,
so sollt auch ihr einander lieben.

Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid:
wenn ihr einander liebt.“ (Joh 13,35f)

Liebe Schwestern und Brüder!

Sie sehen,
welcher Anspruch hinter diesen so selbstverständlich klingenden Worten
aus dem Johannesevangelium steht.

Und wir können erahnen,
welche Sprengkraft hinter diesen Worten steckt.

Und wir werden erleben,
welche revolutionäre Kraft sich
in der Umsetzung dieser Worte entfaltet.

Die Umsetzung aber liegt nun bei uns.


[1] aus Elberfelder Studienbibel, Witten 2012, S. 1855f.

[2] http://www.perikopen.de/Lesejahr_C/05_Ost_C_Joh13_31-35_Hasitschka.pdf, S.3